Flüchtlingsfamilien evakuiert

Es sind wohl stets die Kinder, die unter Kriegen am meisten leiden. Besonders schwierig wird es dabei für diejenigen Familien, die ein behindertes Kind versorgen müssen. Ins Auto oder in den Zug steigen und fliehen, ist kaum möglich, wenn das Kind körperlich eingeschränkt ist, medizinische Betreuung braucht oder gar liegend transportiert werden muss.

Wenigstens einigen Familien konnte nun geholfen werden: In Zusammenarbeit zwischen einer Privatinitiative und den Maltesern aus Reutlingen und Villingen-Schwenningen wurden mehrere Familien mit behinderten Kindern aus der Ukraine in Sicherheit gebracht. Die Reutlinger Malteser stellten hierzu ihren Krankentransportwagen mit dem Funkrufnamen „Johannes Reutlingen 60/25-1“ zur Verfügung. Der ehrenamtliche Einsatzsanitäter Alexander Thomys brachte den Krankentransportwagen, der es ermöglicht, einen Patienten auch liegend zu transportieren, zum Treffpunkt am Autohof bei Nattheim – dort ergänzten Detlev Dillmann von den Maltesern Villingen und die Notärztin Chalida Kern die Fahrzeugbesatzung. Drei weitere Fahrzeuge, darunter zwei Transporter mit Anhängern, die Hilfsgüter geladen hatten, ergänzten den kleinen Konvoi – der in den folgenden drei Tagen mehr als 2900 Kilometer zurücklegte.

Los ging die Fahrt am vergangenen Donnerstagvormittag, in Nattheim stiegen in den Reutlinger Krankentransportwagen auch schon ukrainische Flüchtlinge: Eine Mutter mit ihren zwei Kindern hatte sich entschlossen, zurück in die bisher vom Krieg weitestgehend verschonte Westukraine zurückzukehren. Eine der beiden Töchter, ein junges Mädchen, war aufgrund einer Zerebralparese schwerbehindert und musste liegend transportiert werden. Ihre Mutter begleitete sie im Krankentransportwagen – während die 15-jährige, ältere Tochter in einem Kleinbus der Villinger Malteser Platz nahm.

Rund um die Uhr gefahren

„Gefahren wurde im Prinzip rund um die Uhr, wobei sich die Fahrer natürlich abgewechselt haben – anders wäre das nicht machbar gewesen“, berichtet Alexander Thomys, der eigens für die Hilfsfahrt Urlaub genommen hatte. Dabei zeigte sich prompt, wie wichtig die Nutzung des medizinisch ausgerüsteten Einsatzfahrzeuges der Reutlinger Malteser war: Auf der Autobahn 9 musste das Mädchen erbrechen und bekam Atemprobleme – zur Versorgung des Mädchens hielt der Krankentransportwagen mit Blaulicht im Baustellenbereich an. Nachdem die Atemwege wieder frei waren, eine Infusion und Medikamente die Übelkeit bekämpft hatten, konnte die Fahrt weitergehen. Ein Einscheren auf die Autobahn war – mangels Beschleunigungsplatz in der Baustelle – allerdings auch mit Blaulicht nicht möglich.

Polizei macht den Weg frei

Kurzerhand wurde die Polizei zur Hilfe gerufen, die mit einem Streifenwagen den Verkehr ausbremste und dem Reutlinger KTW die sichere Rückkehr auf die Fahrspur ermöglichte. „Die Polizei hat uns völlig unkompliziert geholfen“, berichtet Thomys erleichtert. In Polen angekommen, konnte der 35-Jährige dem kleinen Konvoi mit seinen Sprachkenntnissen weiterhelfen – Polnisch ist die zweite Muttersprache des Einsatzsanitäters, der sich auch bei der Freiwilligen Feuerwehr in Reutlingen engagiert.

Am Freitagmorgen nach Sonnenaufgang erreichten die Malteser Medyka, unmittelbar an der polnisch-ukrainischen Grenze gelegen. Dort wurden zunächst die mitgebrachten Hilfsgüter ausgeladen. Medikamente, Verbandsmaterial, Infusionsständer und Rollstühle sollen in der Ukraine der Erstversorgung von Kriegsverletzten dienen, außerdem wurden unter anderem Küchengeräte, Feldbetten und Geschirr an die ukrainische Feuerwehr gespendet: Diese nutzt das Material, um damit Flüchtlingsunterkünfte für Binnenflüchtlinge in der Westukraine zu errichten. „Der Materialbedarf ist jeweils mit den zuständigen ukrainischen Behörden abgestimmt“, berichtet Detlev Dillmann, der früher als Pädagoge in Sibirien und Osteuropa unterwegs war und sich in der Ukraine inzwischen ein großes Netzwerk erarbeitet hat. Vom dortigen Gesundheitsministerium bekommt der Villinger auch die Transportanfragen für Familien mit teils schwerbehinderten Kindern.

„Nachdem die Hilfsgüter in einen ukrainischen Lastwagen verladen waren, steuerten wir eine Erstunterkunft für ukrainische Flüchtlinge in Medyka an“, erzählt Thomys. Dort hatten die Helfer aus Deutschland die Gelegenheit, sich zu duschen, zu frühstücken und einige Stunden zu schlafen. Vor der Unterkunft, eingerichtet in der Sporthalle einer Schule, lag ein kleiner See samt Springbrunnen und hübsch arrangierten Blumenbeeten. „Dieser Kontrast ist schon verrückt – hier herrscht im Prinzip geordneter Alltag und Wohlstand und wenige Kilometer entfernt herrscht Krieg“, sagt der 35-Jährige nachdenklich. Neben den zahlreichen Hinweisschildern auf die Flüchtlingsunterkunft weisen nur lange LKW-Staus in Richtung Grenze darauf hin, dass hier seit Wochen der Ausnahmezustand herrscht.

In der Flüchtlingsunterkunft übernimmt das polnische Militär die Registrierung der Ankommenden, Freiwillige sorgen für die Verpflegung und Erstunterkunft in der Sporthalle, während die örtliche Feuerwehr den Weitertransport, etwa zum nächsten Bahnhof, übernimmt.

Für die Familien, die den Transport durch die Malteser in Anspruch nahmen, wäre eine Zugfahrt aufgrund der Behinderungen der Kinder keine Option gewesen. Umso dankbarer waren die Menschen – die sich prompt zu früh ihre Plätze in den Fahrzeugen suchten. Die Helfer reagierten flexibel, verkürzten ihre Ruhepause und starteten früher den Heimweg ins sichere Deutschland. Über ein DRK-Büro hatte Dillmann zuvor dafür gesorgt, für alle Flüchtlinge adäquate Unterbringungsmöglichkeiten im Südwesten zu finden. Für Dillmann war dies schon die sechste Fahrt, teilweise reiste der 61-Jährige auch schon in die Ukraine, um mit den Behördenvertretern vor Ort zu sprechen.

Rettungshundestaffel hilft

Erneut wurde die Nacht durchgefahren – wobei mit vielen Kindern an Bord deutlich mehr und längere Pausen nötig waren. Für manche Kinder schien die Fahrt einem Abenteuer zu gleichen – den Müttern sah man die Sorgen dagegen deutlich an. Gegen 11 Uhr kam die Kolonne in der Achalmstadt an – hier stiegen zwei Passagiere aus, weshalb die Villinger Malteser auch die Reutlinger Ortsgliederung um Unterstützung gebeten hatten. Die Fahrt war für den Reutlinger Krankentransportwagen – dessen Tacho unterwegs die 350 000 Kilometer überschritten hatte – noch nicht zu Ende. Ein junger Erwachsener, ebenfalls mit Zerebralparese, musste zusammen mit seiner Mutter nach Blumberg gebracht werden.

Zur Unterstützung von Thomys stieg hier noch Rudolf Lorenz ein. Lorenz ist Zeugwart bei der Malteser Rettungshundestaffel Esslingen-Reutlingen und übernahm auf dem letzten Teilstück das Steuer.

Am Samstag gegen 16 Uhr – nach drei Tagen auf der Straße – kehrten die Reutlinger Malteser zurück. Bis dahin hatte der Krankentransportwagen exakt 2966 Kilometer zurückgelegt. „Diese drei Tage waren wahnsinnig intensiv und anstrengend. Aber diesen Menschen helfen zu können, war es allemal wert“, bilanzierte Alexander Thomys. Zuvor hatte der Familienvater bereits in den Flüchtlingsunterkünften auf der Landesmesse und in Esslingen geholfen, wo die Malteser die medizinische Versorgung der Flüchtlinge sicherstellten. „Das Schicksal dieser Menschen lässt einen nicht los. Krieg in Europa war für uns ja undenkbar. Man fühlt sich schrecklich machtlos. Da tut es gut, wenigstens ein wenig helfen zu können“, sagt Thomys.

Die Hilfsfahrt an die ukrainische Grenze wurde von allen Teilnehmern unentgeltlich im Ehrenamt durchgeführt. Auch der Malteser Hilfsdienst stellte seine Fahrzeuge und Helfer kostenlos zur Verfügung und übernahm zudem die entstehenden Fahrtkosten. Insgesamt haben die Malteser bereits mehr als 120 Hilfskonvois durchgeführt. Wer die Arbeit der Malteser unterstützen möchte, kann mit dem Stichwort „Ukraine-Hilfe“ spenden: DE10 3706 0120 1201 2000 12.

Wer sich vor Ort einbringen möchte, beispielsweise ehrenamtlich im Sanitätsdienst oder Katastrophenschutz, findet alle Informationen und Kontaktdaten im Internet unter
www.malteser-neckar-alb.de.


Für weitere Informationen steht Ihnen unsere Pressestelle zur Verfügung.